Vor einiger Zeit hab ich eine Frau im Rollstuhl einen Tag lang begleitet. Ich bin eingesprungen für eine Bekannte, die das sonst immer macht. Ich weiß noch gut, wie ich ihr geholfen habe, in der Stadt Besorgungen zu machen. Ich habe meine Stadt auf einmal aus einer ganz anderen Perspektive gesehen. Die engen Gassen, das Kopfsteinpflaster, die hügelige Altstadt: alles, was mir sonst so gut gefällt, war an dem Tag ein wirkliches Hindernis. Die Frau im Rollstuhl kann gar nicht in die Stadt, ohne dass ihr jemand hilft. Zum Supermarkt, der nur über Treppen erreichbar ist, kommt sie gar nicht. Oder auf den Weg, auf dem ich gerne am Fluss spaziere; der ist viel zu schmal und holprig für ihren Rollstuhl. Der Stadtraum ist so strukturiert und gebaut, dass er Menschen wie sie ausschließt. Mich macht das nachdenklich. Ich finde, der öffentliche Raum sollte so gestaltet sein, dass er allen Menschen dient und dass sie ihn auf ihre Weise nutzen können. Ich frage mich: was bedeutet mir die schöne Altstadt, wenn ich weiß, dass sie für viele Menschen gar nicht nutzbar ist? Ich finde es wichtig, dass auch solche Perspektiven eine Rolle spielen, wenn es darum geht, wie wir leben wollen. Das kann heißen, dass die Stadt Wege begradigt, nicht nur an den unbedingt notwendigen Stellen, sondern zum Beispiel auch am Fluss entlang. Oder dass Bodenmarkierungen angebracht werden, die sehbehinderten Menschen den Alltag erleichtern und ermöglichen, dass sie genauso teilhaben wie alle anderen. Dafür kann ich mich auch einsetzen, bei Kommunalwahlen zum Beispiel; wenn es darum geht, wie die Stadt gestaltet wird. Damit der öffentliche Raum ein gerechterer Raum ist.

 

 

Quelle: https://www.kreuzquer.info/?id=4396